Tag 6 - Estranged - wenn man sich selbst verliert.
Zugegeben: Der heutige Song braucht ein wenig Zeit, bis man reinkommt und den tieferen Sinn dahinter schätzen kann. Dann ist Estranged allerdings ein Paradebeispiel für das Symptom, das allgemeinhin als Depersonalisation bezeichnet wird.
Guns n Roses war wohl einer DER Rockbands der späten 80er und dann der 90er Jahre. Die Mischung aus eingängigen Texten und Melodien, der etwas härteren Gangart, der schillernden Präsenz des Paradiesvogels und Frontmanns Axl Rose - und nicht zuletzt der unglaublich guten Riffs von Gitarrist Slash - bescherten der Band einen unvergleichlichen Ruhm und sorgten für prall gefüllte Stadien.
Estranged erschien als elfter Track auf der 1991 erschienenen blauen "Use your Illusion" und ist vielleicht eines der weniger bekannten Lieder, was der epischen Länge von knapp 10 Minuten zu verschulden sein mag.
In dem Song erzählt Axl die Geschichte eines Menschen, der sich selbst zu verlieren droht - oder sich selbst schon verloren hat. Er beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn plötzlich alles irgendwie fremd wirkt - inklusive der eigenen Persönlichkeit.
Therapeuten und Heilpraktiker kennen dieses Phänomen, das u.a. bei Angststörungen, Depressionen und auch Suchterkrankungen auftritt, als Depersonalisation oder Derealisation. Für Betroffene ein Zustand, der allerhöchsten Leidensdruck mit sich bringt: Wenn sich nichts mehr wirklich echt anfühlt, verliert man peu-a-peu nicht nur den Bezug zur Realität, sondern auch die Bodenhaftung. Nicht umsonst besteht allerhöchster Interventionsbedarf, wenn Klienten dieses Symptom mit angeben.
Das Lied beginnt mit den Zeilen "Wenn du Selbstgespräche führst, und du alleine zu Hause bist. Kannst du dich vielleicht noch selbst täuschen ... aber: In diese Welt kamst du ganz alleine."
Rose legt sofort nach: "Tja, hat dir wohl niemand vorher gesagt, was auf dich zukommt. Was wird nun wohl widerfahren mag? Schätze, da müssen wir mal abwarten und schauen ..."
Der melancholische Grundton zieht sich über das gesamte Lied hinweg fort. Das dazugehörige Video ist ein kleines Meisterwerk: Szenen, in denen die Band in voll gefüllten Stadien auf der Bühne steht, wechseln sich mit Passagen ab, in denen Rose sehr gekonnt seine vermeintliche Erkrankung spielt.
Vermeintlich? Spielt? In diesem Lied steckte wohl weitaus mehr Wahrheit, als man seinerzeit gedacht hätte. Nach der Veröffentlichung des Doppelalbums und einige Tourneen ist die Band zerbröckelt. Axl Rose ebenso: Sein lange angekündigtes Folgealbum "Chinese Democracy" wurde zur Lachnummer der Industrie, da sich die Veröffentlichung um sage und schreibe mehr als zehn Jahre verzögert hat. Zehn Jahre, in denen Rose auch auf der Wage ordentlich zugelegt hat und fast nicht wiederzuerkennen ist im Vergleich zu dem drahtigen, quirligen Rocker, der noch in den 90ern sein Publikum begeisterte - wenn er nicht wieder mal den Auftritt im Alkoholkoma verschlafen hatte. Denn auch dafür war die Band bekannt und kultivierte so das Image der Bad Boys der Rockszene. Schade nur, wenn das Künstlerimage irgendwann zur Realität wird.
Und hier der Text:
When you're talking to yourself
And nobody's home
You can fool yourself
You came in this world alone
(Alone)
So nobody ever told you baby
How it was gonna be
So what'll happen to you baby
Guess we'll have to wait and see
(1, 2, ...)
Old at heart but I'm only 28
And I'm much too young
To let love break my heart
Young at heart but it's getting much too late
To find ourselves so far apart
I don't know how you're s'posed
To find me lately
An what more could you ask from me
How could you say that I never needed you
When you took everything
Said you took everything from me
Young at heart an it gets so hard to wait
When no one I know can seem to help me now
Old at heart but I mustn't hesitate
If I'm to find my own way out
Still talking to myself
and nobody's home
(Alone)
So nobody ever told us baby
How it was gonna be
So what'll happen to us baby
Guess we'll have to wait and see
When I find out all the reasons
Maybe I'll find another way
Find another day
With all the changing seasons of my life
Maybe I'll get it right next time
An now that you've been broken down
Got your head out of the clouds
You're back down on the ground
And you don't talk so loud
An you don't walk so proud
Any more, and what for
Well I jumped into the river
Too many times to make it home
I'm out here on my own, an drifting all alone
If it doesn't show give it time
To read between the lines
'Cause I see the storm getting closer
And the waves they get so high
Seems everything We've ever known's here
Why must it drift away and die
I'll never find anyone to replace you
Guess I'll have to make it thru, this time- Oh this time
Without you
I knew the storm was getting closer
And all my friends said I was high
But everything we've ever known is here
I never wanted it to die ...
Gute Musik berührt Seele und Herz gleichermaßen. Sie kann uns zum lachen genauso wie zum weinen bringen. Sie kann motivieren, beruhigen, erheitern, besänftigen, energetisieren oder ausgeglichen machen.
Vor allem aber kann sie uns zum Nachdenken anregen: Und zwar dann, wenn die enthaltene Botschaft einen besonderen Tiefgang enthält.
In den kommenden 30 Tagen präsentieren wir Ihnen jeden Tag einen eigens von uns ausgewählten Song, der in irgend einer Art und Weise immer wieder mit dem Thema Menschsein zu tun hat.
Mit der Tragik des Lebens genauso wie mit der Hoffnung und Leichtigkeit des Seins. Insbesondere interessieren uns dabei natürlich genau die Lieder, die einen gewissen psychologischen Kontext mitbringen und uns zum Nachdenken einladen, uns dabei die Möglichkeit der Selbst- und Fremdreflexion bieten. Lieder eben, die für Coaches und Hypnotiseure genauso wie für die Menschen interessant sind, die sich selbst noch ein wenig besser entdecken wollen. Lassen Sie sich überraschen und genießen Sie einfach die paar Minuten Auszeit mit Hits genauso wie mit weniger bekannten Liedern von heute genauso wie von dazumal.